Samstag, 29. März 2014

Berufsunfähigkeit - Versicherer zahlen großzügiger als gedacht

Wie man die Arbeit der Versicherungswirtschaft einschätzt, hängt immer von der Perspektive ab. Die Unternehmen klagen darüber, wie häufig sie von Kunden betrogen werden. Jede Privatperson kennt dagegen eine Geschichte, in der sich der Versicherer geweigert hat zu zahlen. Manchmal nehmen solche Fälle erschreckende Ausmaße an. So ging es einem Lastwagenfahrer, dessen Körper auf einem Betriebsgelände von einem Gegenstand durchbohrt wurde. Seither ist er schwerbehindert und kann nicht mehr arbeiten. Doch sein Unfallversicherer schickte ihm ein Standardschreiben, auf dem er einem Forderungsverzicht gegen einen Bagatellbetrag zustimmen konnte. Erst nach einem zermürbenden Prozess konnte er dann die sechsstellige Versicherungssumme erstreiten, die ihm zustand. Philipp Krohn Autor: Philipp Krohn, Jahrgang 1977, Redakteur in der Wirtschaft.

Doch wie verbreitet sind solche Fälle? In Verbrauchersendungen im Fernsehen wird suggeriert, dass Ablehnungen die Regel sind. Im vergangenen Januar erzeugte die Wochenzeitung „Die Zeit“ mit einem umfangreichen Artikel unter der Überschrift „Im Stich gelassen“ erheblichen Wirbel in der Assekuranz. Auf Verbraucherfragen spezialisierte Anwälte berichten davon, dass Versicherer insbesondere bei teuren Berufsunfähigkeitsfällen systematisch Leistungen verweigern. Der Branchenverband GDV reagierte auf diese Kritik im vergangenen Juli mit einer eigenen Untersuchung. „98 bis 99 Prozent der Fälle werden reibungslos reguliert“, ließ der Verband bei der Präsentation wissen. Ihm wurde deshalb viel Skepsis entgegengebracht.

Aufschlussreicher scheinen Untersuchungen von unabhängigen Marktbeobachtern. Jedes Jahr schaut die Produktratingagentur Franke & Bornberg genauer hin. Sie richtet sich mit ihren Analysen an Versicherungsmakler und ist somit Teil der Branche. Sie hat aber zu allen Anbietern dieselbe Distanz und schreckt selten vor Kritik zurück. In diesem Jahr ist die Untersuchung deutlich umfangreicher ausgefallen als in den Vorjahren. Sie liegt dieser Zeitung exklusiv vor. „Die medial verarbeiteten Fälle spiegeln sich nicht als systematisches Vorgehen in unseren Zahlen wider“, sagt Geschäftsführer Michael Franke. „Auch bei den von uns untersuchten Unternehmen laufen gelegentlich Dinge schief. Wir wollen ihnen also keinesfalls einen Persilschein ausstellen.

Was der Kunde im Vertrag ausschließen sollte
Erstmals ist in der Analyse erhoben worden, wie häufig Versicherer einen Gutachter bestellt haben, um die Berufsunfähigkeit zu prüfen. Der öffentliche Vorwurf gegen die Branche lautet, dass sie sich überwiegend auf Gefälligkeitsgutachter stütze, die der Versicherungswirtschaft nahestünden. Bei den insgesamt 22.000 Neuanmeldungen zur Berufsunfähigkeit (was der Hälfte des gesamten Marktes entspricht), wurden in 7,2 Prozent der Fälle Gutachter zu Rate gezogen. In einer Stichprobe gingen 49 von 69 Gutachten an verschiedene Mediziner. Sie sind regional breit gestreut, was die Aussage der Versicherer stützt, dass sie wohnortnahe Experten einsetzen. Zudem zeigen die Leistungsfall-Dokumentationen, dass sie danach ausgewählt wurden, ob sie gerade Zeit hatten. Ein systematischer Rückgriff auf immer dieselben Gutachter brächte sicherlich andere Ergebnisse zutage. In mehr als drei Viertel der Gutachten ging es übrigens um psychische und orthopädische Erkrankungen, die häufig unklarer liegen als andere Fälle. Worauf sich Kunden einstellen müssen  Worauf sich Kunden einstellen müssen In rund 70 Prozent der Neuanmeldungen werden die Leistungen gewährt, in 30 Prozent abgelehnt. In vier von zehn Fällen ist die Ablehnung medizinisch begründet. Etwa genauso hoch ist der Anteil der Kunden, die ihren Antrag nach einer Ablehnung zurückziehen. Makler weisen in ihren Beratungen darauf hin, dass der Kunde im Vertrag ausschließen sollte, abstrakt auf einen anderen Beruf verwiesen werden zu können. Das heißt, dass er in jedem Fall als berufsunfähig anerkannt wird, wenn er seinen gelernten Beruf nicht mehr ausüben kann.

Kommt es zum Prozess, müssen Versicherer selten zahlen
Wenn der Antrag auf Berufsunfähigkeit abgelehnt wird, verweist der Versicherer nur in 2,1 Prozent der Fälle abstrakt: Insgesamt dauert es rund 170 Tage, bis ein Fall fertigreguliert ist. Ablehnungen dauern 180 Tage, Anerkennungen etwas weniger als 160 Tage. Seit Franke & Bornberg diese Zahl vor fünf Jahren das erste Mal erhoben hat, ist die Bearbeitungsdauer kontinuierlich gesunken: bei Anerkennungen um etwa ein Viertel, bei Ablehnungen um ein Zehntel. Auch dies spricht aus Sicht von Franke gegen eine kundenfeindliche Regulierung. „Gäbe es eine systematische Leistungsverschleppung, müssten mehr Fälle bekanntwerden“, sagt er. Auch eine Umfrage unter 2.500 Versicherungsmaklern nach auffälligem Regulierungsverhalten habe gerade einmal fünf neue Fälle zutage gefördert.

Ein Manko der Untersuchung ist wie üblich bei solchen Stichproben, dass nur Unternehmen berücksichtigt wurden, die freiwillig teilnehmen. Das kann die Ergebnisse verzerren. Verbraucher können dennoch sinnvolle Schlussfolgerungen ziehen. Wenden sie sich an einen Versicherungsmakler, weiß dieser in der Regel, welche Versicherer umsichtiger regulieren und welche häufiger Leistungen verweigern. Umstritten ist die Interpretation des mit 50 Prozent hohen Anteils von Vergleichen bei gerichtlichen Auseinandersetzungen. Weitere Artikel Aufteilung der Versicherungen: Bei der Scheidung geht es jetzt ums Geld Lebensversicherungen: Neue Versicherungsideen sind kaum zu verstehen Dass nur in 17 Prozent der Prozesse der Versicherer zum Zahlen verdonnert wird, wertet die Branche als Bestätigung für ihre saubere Regulierung. Kritische Beobachter dagegen sehen gerade dies als Beleg dafür, dass die Versicherer häufig bis zum Äußersten gehen und erst die Leistung bewilligen, wenn sie schon Signale vom Gericht erhalten, dass sie den Prozess verlieren. So war es übrigens auch in dem eingangs geschilderten Fall des Unfallopfers.

In der Arzneimittelversorgung gibt es große Unterschiede zwischen PKV und GKV

Die Analyse weise deutliche Unterschiede in der Arznei-Verordnungspraxis nach, die eine größere Wahl- und Therapiefreiheit sowie Innovationsfreundlichkeit in der PKV belegen, so das WIP in seiner Pressemitteilung: „Die Versorgungsunterschiede ergeben sich erkennbar daraus, dass der Arzt bei Privatversicherten nicht an Rabattverträge und Richtlinien gebunden ist. Er kann sich an den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Therapieansätze sowie den individuellen Bedürfnissen des mündigen Patienten orientieren, während er bei GKV-Versicherten in hohem Maße den Preis der Medikamente beachten muss, um finanzielle Nachteile (Regresse) für sich zu vermeiden.“ Regresse und Richtgrößen sollen starken Einfluss auf die Arzneimittelversorgung haben Welchen starken Einfluss das GKV-Steuerungselement der Regresse bei Überschreiten der Richtgrößen hat, will das PKV-Institut anhand der Verordnungspraxis von innovativen Gerinnungshemmern (neue orale Antikoagulanzien), deren Therapiekosten 17-mal höher liegen als bei der Standardtherapie mit Vitamin-K-Antagonisten, ausgemacht haben: „Wie das WIP feststellt, entfallen etwa 20 Prozent aller Verordnungen der neuen oralen Antikoagulanzien auf Privatversicherte, obwohl sie nur elf Prozent der Bevölkerung ausmachen.“ Die WIP-Studie untersucht auch die Wirkungen der Rabatte nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG): „Obwohl die vereinbarten Preise auch für die PKV gelten, führt das AMNOG keineswegs zu einer gleichen Verordnungspraxis von PKV und GKV“, heißt es in der Pressemitteilung weiter. Dies zeige sich beispielhaft beim teuren Prostatakrebs-Medikament Zytiga®, dem der Gemeinsame Bundesausschuss einen beträchtlichen Zusatznutzen attestiert hat. Hier liege die Zahl der Verordnungen in der PKV je Versicherten etwa doppelt so hoch wie in der GKV. Für GKV-Versicherte stellen Zuzahlungen laut Studie eine hohe Hürde dar Bei Präparaten mit einem Preis über dem Festbetrag müssen GKV-Versicherte einen Teil der Kosten selbst zahlen. Dies führe dazu, dass chronisch Kranke auf das möglicherweise für sie geeignetere Präparat verzichten, führt das WIP aus. Ein derartiges Problem stelle sich in der PKV nicht. Starke Unterschiede zeigten sich beispielsweise bei dem vom Arzneiverordnungs-Report empfohlenen kortisonhaltigen Asthmaspray Alvesco®. Bezogen auf die Versichertenzahl gab es in der PKV 5,6-mal mehr Verordnungen als in der GKV, da die Zuzahlungen für viele GKV-Patienten eine zu hohe Hürde darstellen. Mit Blick auf diese Studie sei die „von manchen gesundheitspolitischen Akteuren vertretene These einer Angleichung“ der PKV an die GKV im Arzneimittelbereich nicht haltbar. Dies schlage sich auch in abweichenden durchschnittlichen Kosten je abgegebener Packung nieder. Unterstelle man in PKV und GKV die gleiche Quote von nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten, ergebe sich hier ein Preisunterschied von 30 Prozent, so das WIP. Grundlage der WIP-Arzneimittelstudie sind die Daten von mehr als 52,9 Mio. Arzneimittelverordnungen des Jahres 2012, die zur Kostenerstattung bei 14 PKV-Unternehmen eingereicht wurden. Bei diesen Unternehmen sind etwa 72 Prozent aller Privatversicherten versichert.